Wer war Hermann von Helmholtz

„Die Arbeit hat Implikationen bis heute“

Hermann von Helmholtz war ein enorm vielseitiger Forscher. Das zeigt nun auch die erstmalige Übersetzung seiner Doktorarbeit aus dem Lateinischen. Darin beschrieb er erstmals Grund- Prinzipien des Nervensystems, die bis heute gelten.

Prof. Helmut Kettenmann. Bild: David Ausserhofer/MDC
Prof. Helmut Kettenmann. Bild: David Ausserhofer/MDC

Helmut Kettenmann, Neurowissenschaftler am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft, hat die Dissertation, die Hermann Helmholtz 1842 als 21-Jähriger an der Friedrich-Wilhelm-Universität Berlin auf Latein einreichte, erstmals ins Deutsche und Englische übersetzt, eingeleitet und kommentiert, zusammen mit der Altphilologin Julia Heideklang von der Humboldt-Universität und dem Neurobiologen Joachim Pflüger an der Freien Universität Berlin. Seit August ist sie im Buchhandel erhältlich.

Helmholtz untersuchte die Nervensysteme von Insekten, Spinnen, Krebsen, Schnecken und Würmern und verglich ihre äußeren Strukturen sowie die innere Feinstruktur. Er beschrieb Nervenzellen mit ihren Fasern und erkannte den allgemeinen Aufbau von Ganglien des Bauchmarks. Er erkannte viele Gemeinsamkeiten in den zentralen Nervensystemen von Wirbellosen und Wirbeltieren.

Wie und warum kamen Sie auf die Idee, eine fast 170 Jahre Doktorarbeit aus dem Lateinischen zu übersetzen?
Ich stieß eher zufällig darauf, dass Helmholtz auf dem Gebiet der Neurowissenschaften etwas publiziert hatte, in Latein. Ich wollte mehr darüber wissen und stellte fest, dass diese Doktorarbeit nie in eine andere Sprache übersetzt wurde. Mein großes Latinum liegt 45 Jahre zurück und eine Computerübersetzung brachte nichts. Ich nahm Kontakt mit der Helmholtz-Gemeinschaft auf und regte an, dass dieser Text unbedingt übersetzt werden müsste. Ich bekam finanzielle Unterstützung und konnte mit Julia Heideklang eine Altphilologin gewinnen, die sich hauptsächlich mit lateinischen Wissenschaftstexten aus dieser Zeit beschäftigt. Joachim Pflüger arbeitet am Nervensystem von wirbellosen Tieren, während ich Wirbeltierspezialist bin.

Wie sind Sie weiter vorgegangen?
Julia Heideklang hat erst einmal nah am Text übersetzt. Zusammen haben wir dann intensiv daran gearbeitet, den Text in eine Sprache zu übersetzen, die ein Wissenschaftler verstehen kann. Die Begriffe von damals sind ja nicht mehr die, die wir heute benutzen. Der Begriff Neuron beispielsweise wurde erst 50 Jahre später geprägt.

Wie lange hat es gedauert von der Idee bis zum fertigen Buch?
Den Antrag habe ich im November 2020 an die Helmholtz-Gemeinschaft geschickt und seit 1. August ist das Buch erhältlich.

Warum wurde die Dissertation nie zuvor übersetzt?
Damals war es so, dass alle Dissertationen in Latein publiziert wurden. Erst in den 1860er-Jahren wurde diese Regelung aufgeweicht, sodass man auch Dissertationen auf Deutsch publizieren durfte. Auf die Idee, Helmholtz’ Arbeit nachträglich zu übersetzen, ist einfach niemand gekommen.

Hat es sich gelohnt? Hat Helmholtz etwas Relevantes geschrieben?
Er hat wirklich eine fundamentale Arbeit geschrieben, es ist unglaublich, was er damals für Einblicke hatte und zu welchen Erkenntnissen er kam. Dass diese Arbeit so lange geschlummert hat, ist kaum zu glauben.

Was sagt uns seine Dissertation heute?
Sie müssen sich in die Zeit zurückversetzen. Damals waren die Neurowissenschaften eine sehr junge Disziplin. Die Zelltheorie war erst vier, fünf Jahre zuvor entstanden. Henle und Schleiden haben sie 1838 formuliert. Sie sagt aus, dass alle Gewebe aus einzelnen Zellen aufgebaut sind. Eine fundamentale Erkenntnis. Und daraus entstand die Frage: Wie sind Nervensysteme aufgebaut? Das erste Bild von einer Nervenzelle wurde erst 1836 publiziert, nur sechs Jahre vorher. Dann war natürlich eine spannende Frage: Wir Menschen nutzen das Gehirn, um uns selbst zu erkennen, wir können uns gut vorstellen, dass ein Hund oder eine Katze ähnlich reagieren könnte. Aber wenn wir uns einen Blutegel oder einen Regenwurm anschauen, hat der überhaupt ein Nervensystem? Braucht er eins? Wie sieht das aus? Helmholtz’ Doktorarbeit hat eine ganze Reihe von wirbellosen Spezies untersucht: Regenwurm, Flusskrebs, Muschel… und er hat diese Nervensysteme auf mikroskopischer Ebene analysiert.

Mit welchem Ergebnis?
Dass die Nervensysteme dieser ganzen Wirbellosen im prinzipiellen Aufbau identisch sind mit dem von Wirbeltieren bis hin zum Menschen. Sie bestehen aus Nervenzellen, aus Nervenfasern, die miteinander verbunden sind, und Nervenzentren, bei den Wirbellosen sind es Ganglien, also Anhäufungen von Nervenzellen. Bei uns ist es sehr zentriert im Gehirn, aber geht auch ins Rückenmark über, es gibt auch periphere Ganglien, die etwa unsere Darmbewegungen kontrollieren. Wenn man das alles vergleicht, ist der generelle Bauplan von Nervensystemen im gesamten Tierreich identisch. Diese These hat er formuliert in seiner Doktorarbeit. Das ist die Essenz. Er war der Erste, der ganz systematisch im Tierreich Nervensysteme auf mikroskopischer Ebene analysiert hat.

Die Übersetzung lebt also nicht allein vom Klang des Namens Helmholtz und davon, dass die Mitarbeiter der Gemeinschaft sie sich ins Regal stellen können. Da können sich Forschende auch heute Erkenntnisse und Anregungen herausholen?
Ich finde sogar, es sollte eine Pflichtlektüre für Studenten der Neurowissenschaften werden.

War Helmholtz’ Leistung für die Zeit wirklich so außergewöhnlich?
Das kann man wirklich sagen. Er hat eine Vision nach vorne gebracht, die war vorher nicht da. Oder nicht in dieser Klarheit formuliert. Die Arbeit hat zum Beispiel Implikationen, die bis in die heutige Zeit reichen.

Nämlich?
Gerade in den 1960er- und 1970er-Jahren, als ich in die Neurowissenschaften startete, war es gang und gäbe, dass man Wirbellosen-Systeme als Modellsysteme benutzte, um fundamentale Prinzipien in den Neurowissenschaften zu erklären. Weil die ganzen Paradigmen, wie Erinnerungen gespeichert werden, ähnlich sind von der Schnecke bis hin zum Menschen. Diese ganzen fundamentalen Mechanismen lassen sich an Wirbellosen erforschen, weil deren Nervensystem im Grundaufbau, von der ganzen molekularen Struktur, vom ganzen molekularen Mechanismus, identisch ist mit dem von Wirbeltieren wie uns Menschen. Ich habe am Laufvorgang des Flusskrebses gearbeitet während meiner Studienzeit und die fundamentalen Mechanismen sind identisch. Diese Grundlagen dafür, dass man die Wirbellosensysteme nehmen kann als Modelle für menschliche Nervensysteme, die kommen eigentlich aus der Helmholtz-Arbeit.

Lief das Übersetzen nach einer gewissen Eingewöhnung flüssiger?
Naja, sagen wir so: Es war schon eine Herausforderung. Alleine herauszufinden, was er meinte, wenn er die Dinge in seinen Worten beschrieb. Dafür muss man sich in dem System auskennen, das er gesehen hat. Darum habe ich Joachim Pflüger mit ins Boot geholt, der sich mit dem Nervensystem der Wirbellosen sehr gut auskennt. Wenn man das nicht kennt und jemand beschreibt das in blumigen Worten, dann weiß man nicht, was Helmholtz meinte. Leider hatte er nicht genug Geld, um seine Arbeit zu illustrieren. Das ging damals nur mit teuren Kupferstichen.

Was weiß man über die Rezeption der ursprünglichen, in Latein geschriebene Arbeit? Wurde sie häufig zitiert?
Die damaligen Doktorarbeiten wurden alle in der Regel wenig zitiert. Der enge Kreis kannte das natürlich. Der bekannte Physiologe und Anatom Johannes Müller etwa scharte die ganzen Schüler dieser Berliner Schule um sich, darunter Rudolph Virchow, der die Zellpathologie definierte, oder Emil duBois-Reymond, der die elektrische Aktivität des Nervensystems maß. Die Grundlagen der Neurowissenschaften, das erste Bild vom Neuron, das ist alles in dieser Zeit entstanden. In Berlin. Die kannten sich natürlich alle. Die haben das in Latein gelesen, aber für die nachfolgende Generation ist es verloren gegangen. Ein Aspekt, der aus dieser Zeit noch wichtig ist: Damals wurde erstmals systematisch Mikroskopie sowohl in die Forschung als auch in die Lehre eingeführt. Dafür war Berlin das Zentrum. Da ist parallel dazu eine ganze Industrie entstanden, die Mikroskope gebaut hat.

Da könnte man annehmen, dass aus der Zeit noch einige interessante Arbeiten schlummern.
Das kann man vermuten, ja.

Da hat in diesem Fall der Vorteil des prominenten Namens geholfen, eine davon aus der Vergessenheit zu holen.
Richtig. Sonst hätte ich nie danach geschaut.

Interview: Thomas Röbke

Die Publikation:
Heideklang, Julia / Pflüger, Hans-Joachim / Kettenmann, Helmut: De fabrica systematis nervosi evertebratorum. Die kommentierte Dissertation von / commented Thesis by Hermann Helmholtz, 2021, wbg Academic.

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